In diesem C! Artikel wirft Jörg Rocholl, Präsident der ESMT Berlin, einen Blick auf die Frage:
Warum der Schutz der Biodiversität auch Systemschutz bedeutet
Der globale Schutz der Biodiversität wird in den Naturwissenschaften neben der Verhinderung des Klimawandels als eine der beiden zentralen planetaren Grenzen beschrieben. Eine intakte Natur ist demnach von essentieller Bedeutung für eine langfristig erfolgreiche Wirtschaft und eine tragende Säule unseres gesellschaftlichen Systems. Verschiedene Studien und Erhebungen auf globaler Ebene zeigen, dass die Verringerung der Artenvielfalt ebenso signifikant ist wie der Temperaturanstieg.
Der Klimawandel und seine Folgen sind wissenschaftlich deutlich besser erforscht als der Verlust der Biodiversität.
Aber während die Klimakrise angesichts von Dürren, Unwettern und Überschwemmungen immer stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, ist der Verlust an Biodiversität in den letzten Jahren eher ein untergeordnetes Thema in der öffentlichen Diskussion geblieben. Diese hat sich in Deutschland vor allem auf den möglichen Verlust einzelner Tierarten konzentriert, zum Beispiel bei der geplanten Schaffung neuer Industrieflächen. Der Klimawandel und seine Folgen sind auch wissenschaftlich deutlich besser erforscht als der Verlust der Biodiversität. Die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema Biodiversität liegt im Vergleich zu Klimaschutzpublikationen bei weniger als zehn Prozent.
Mit der Weltnaturkonferenz (CBD COP 15) in Montreal im Dezember 2022 ist das Thema Biodiversität stärker in den Mittelpunkt der Diskussionen gerückt.
Mit der Weltnaturkonferenz (CBD COP 15) in Montreal im Dezember 2022 ist das Thema Biodiversität stärker in den Mittelpunkt der Diskussionen gerückt. Beschlossen wurde unter anderem, dass 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresflächen unter Schutz gestellt, 30 Prozent bereits geschädigter weltweiter Land- und Meeresflächen renaturiert und Risiken durch Pestizide und gefährliche Chemikalien deutlich reduziert werden.
Im Vorfeld der Konferenz in Montreal haben sich Vertreterinnen und Vertreter von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in Deutschland im November 2022 in der Frankfurter Erklärung „für natur-positives unternehmerisches Handeln“ ausgesprochen: https://frankfurter-erklaerung.eu/.
Die Befassung mit diesem Thema soll in vier Schritten erfolgen, die zunächst die grundlegenden Herausforderungen beschreiben, die Bedeutung des Themas unterstreichen und schließlich mögliche Lösungswege und nächste Schritte skizzieren.
Biodiversität ist ein wichtiger Indikator und Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg. Denn nur mit einer sich intakt entwickelnden Natur kann Wirtschaft auch langfristig für Wohlstand sorgen.
1) Markt- und Politikversagen bei der Biodiversität
Das reibungslose Funktionieren von Märkten setzt vor allem voraus, dass perfekte Informationen vorliegen, keine Marktmacht existiert und keine externen Effekte auftreten. Bei der Biodiversität sind diese Annahmen in der Regel nicht erfüllt. Wir haben also keine umfassenden Erkenntnisse darüber, welche Folgen der Verlust eines bestimmten Grades an biologischer Vielfalt hat, gleichsam sind negative externe Effekte im Zusammenhang mit biologischer Vielfalt weit verbreitet.
Die Wirtschaftswissenschaften können dazu beitragen, das resultierende Marktversagen zu korrigieren, zum Beispiel durch Regulierung und das Setzen von Anreizen, die Betrachtung der Verteilungseffekte sowie die Frage des Umgangs mit diesen. Genauso muss die Frage möglichen Politikversagens adressiert werden, die Anreize für Lobbying und andere Aktivitäten öffnet. Die Einsichten hierzu liefern zentrale Erkenntnisse für die notwendigen Schritte zur Verbesserung der gegenwärtigen Situation. Biodiversität ist also ein wichtiger Indikator und Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg. Denn nur mit einer sich intakt entwickelnden Natur kann Wirtschaft auch langfristig für Wohlstand sorgen.
Ähnlich wie beim Klimawandel stellt sich bei der Biodiversität die Frage, wie sich externe ökologische Effekte internalisieren lassen. Wie können die Kosten sichtbar gemacht werden, die durch Nutzung (und Übernutzung) der Umwelt verursacht werden? Es geht also um die Bepreisung von Biodiversitätsverlusten. Die Klimakrise lässt sich durch zwei Indikatoren erfassen, den CO2-Ausstoß (oder breiter den Ausstoß von Treibhausgasen) und den Temperaturanstieg. Beim Thema Biodiversität ist diese Quantifizierung schwieriger, denn sie erfordert die Betrachtung verschiedener Ökosysteme mit Millionen von Pflanzen und Tieren. Die Naturwissenschaften weisen daher auf die Komplexität der Wirkungszusammenhänge für das Artensterben hin. Als Beispiele: Wenn eine bestimmte Tierart (wie die gerade bei der Ansiedlung von Industrieflächen häufig genannte Zauneidechse) ausgerottet ist, ist nicht klar, welche konkreten Folgen damit verbunden sind. Ebenso schwierig ist die konkrete Antwort auf die Frage, wie genau das Verschwinden eines Quadratkilometers Regenwald in seiner Folge zu beziffern ist. Die Folge ist, dass es im Gegensatz zur Klimakrise bei der Frage des Erhalts der Artenvielfalt keinen dem CO2-Preis vergleichbaren Mechanismus gibt. Schon wegen der engen Verzahnung von Klimakrise und schwindender Biodiversität bietet sich zumindest anfänglich eine dem CO2-Mechanismus ähnliche Bepreisung des Verlusts von Natur an. Längerfristig könnte aber ein separater Mechanismus für die Biodiversität mehr Wirkung erzielen, da er die besondere Herausforderung des Erhalts der Biodiversität sichtbarer machen würde. Angesichts der aus den Beschlüssen von Montreal ersichtlichen massiven finanziellen Anstrengungen spielen ökonomische Fragen eine große Rolle, vor allem bei der Frage nach der Mobilisierung privaten Kapitals und seines effizienten Einsatzes. Dieser Aspekt ist von besonderer Relevanz, da viele der global besonders schutzwürdigen Gebiete in Staaten liegen, in denen die effiziente Mittelverwendung durch eingeschränkte Rechtstaatlichkeit und fehlende Governance sowohl auf staatlicher als auch auf privater Ebene an ihre Grenzen kommen könnte. Es muss also sichergestellt werden, dass staatliche Mittel aus dem Globalen Norden effizient eingesetzt werden und nicht versickern. Andernfalls wäre die Mobilisierung privaten Kapitals stark eingeschränkt.
Ökosysteme werden durch den Klimawandel geschädigt und können dann nur noch in geringerem Umfang als Klimapuffer dienen.
2) Biodiversität als Voraussetzung für ein funktionierendes Wirtschaftssystem
Die Naturwissenschaften weisen bereits seit längerer Zeit auf die besondere Dreiecksbeziehung zwischen Klimawandel, Eingriffen in Ökosysteme und Pandemien hin: Ökosysteme werden durch den Klimawandel geschädigt und können dann nur noch in geringerem Umfang als Klimapuffer dienen. Aber auch für den Ausbruch von Pandemien ist die Biodiversität von entscheidender Bedeutung. Diese Wechselwirkung zwischen Biodiversität und Pandemiegeschehen ist ökonomisch von besonderer Bedeutung und illustriert eindrücklich, wie nachhaltiges Wirtschaften von einer intakten Natur abhängt. Wenn mit dem Eindringen des Menschen in hochsensible Ökosysteme das Pandemierisiko steigt, könnte man in Erweiterung des Aspektes der externen Effekte von internen Effekten sprechen. Denn Pandemien untergraben die genuine Möglichkeiten des Wirtschaftens, wie wir es weltweit in der Corona-Pandemie erfahren mussten.
Natur zu schützen heißt deshalb auch, unser Gesundheits- und Wirtschaftssystem zu schützen.
Viren kommen nicht unvermittelt aus der Wildnis in unsere Städte, sondern erst die Interaktion von Menschen mit der Natur schafft für bestimmte Virenarten die idealen Voraussetzungen zur Verbreitung. Natur zu schützen heißt deshalb auch, unser Gesundheits- und Wirtschaftssystem zu schützen. Viele dieser Aspekte sind ausführlicher und umfassender beschrieben im sogenannten Dasgupta-Bericht zur Ökonomie der Biodiversität, den der Wirtschaftswissenschaftler Partha Dasgupta im Jahr 2021 im Auftrag der britischen Regierung verfasst hat.
3) Notwendigkeit für interdisziplinäre Zusammenarbeit
Vor allem das Dreieck zwischen Klimawissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Biodiversitätsforschung ist gefordert, damit neue Erkenntnisse erzielt werden, die die einzelnen Disziplinen allein nicht erbringen können.
Es bedarf aus den oben genannten Gründen einer engeren Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen. Vor allem das Dreieck zwischen Klimawissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Biodiversitätsforschung ist gefordert, damit neue Erkenntnisse erzielt werden, die die einzelnen Disziplinen allein nicht erbringen können. Konkrete Fragen müssen beinhalten, welches wirtschaftliche Handeln konkret die Artenvielfalt verringert und wie diese Art des Wirtschaftens stärker für seine schädlichen Folgen zur Rechenschaft gezogen werden kann. Maßnahmen wie eine stärkere Berücksichtigung der Nutzung von Wald, Land, Wasser und Meereswegen in der unternehmerischen Berichterstattung könnten wichtige erste Impulse geben. In der Frankfurter Erklärung und im Abschlussdokument von Montreal wird daher darauf hingewiesen, dass Unternehmen offenlegen sollen, wie sich ihre wirtschaftlichen Aktivitäten auf die Biodiversität auswirken. Diese Offenlegung erfordert einen Konsens über die schädlichen Aktivitäten und deren Folgen. Die enge Zusammenarbeit der erwähnten wissenschaftlichen Disziplinen ist dafür zwingende Voraussetzung.
4) Weitere nächste Schritte
Es gibt eine wachsende Sensibilität für das Thema bei Unternehmen, aber diesen fehlen bislang konkrete Zielvorgaben. Denn es gibt noch keine standardisierten Maßstäbe oder Maßzahlen, die das Unternehmenshandeln zum Schutz von Biodiversität abbilden. Es gibt derzeit keine international vergleichbaren, quantitativen Angaben zum lokalen Zustand der Biodiversität; ihre Erarbeitung ist eine grundlegende Voraussetzung für die Berichterstattung zum Unternehmenshandeln mit Blick auf die Biodiversität. Die EU-Kommission arbeitet im Rahmen ihrer Reform von Berichtstandards zur Nachhaltigkeit an Vorgaben auch zur Biodiversität. Geplant ist, dass Unternehmen zunächst berichten, wie sie im positiven und negativen Sinne Biodiversität beeinflussen, was sie unternehmen, um negative Auswirkungen zu vermeiden und umzukehren, und wie sie ihr Geschäftsmodell in Einklang mit der Erhaltung von Biodiversität bringen.
Der länderübergreifende Erhalt der Biodiversität ist langfristig die Voraussetzung für den Erhalt unseres Systems.
Die Erhaltung der Biodiversität ist von zentraler Bedeutung bei der Einhaltung der planetaren Grenzen und erfordert daher eine enge Zusammenarbeit von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Innerhalb der Wissenschaft ist eine enge Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen wie der Natur- und Wirtschaftswissenschaften von großer Bedeutung. Ansätze, wie sie in der Frankfurter Erklärung aus dem letzten Jahr zum Ausdruck kommen, müssen deshalb ausgebaut und ausgeweitet werden. Die Beschlüsse von Montreal weisen ambitionierte Ziele und angestrebte finanzielle Mittel zu deren Umsetzung aus, die nur durch die enge Zusammenarbeit der verschiedenen genannten Bereiche und Disziplinen sinnvoll erreicht werden können. Der länderübergreifende Erhalt der Biodiversität ist langfristig die Voraussetzung für den Erhalt unseres Systems.